Ein unglaublicher Fundus an Tanzmusik – Teil I

Ein unglaublicher Fundus an Tanzmusik - Teil I - Akkordeon, Bass, Bulgarien, Dudelsack, Flöte, Folk, Folklore, Folkloretanznoten.de, Geige, Gesang, Griechenland, Jutta Weber-Karn, Klarinette, Kroatien, Martin Junghans, Noten, Rahmentrommel, Tamburica, Tanz, Tanzlehrer

Im Januar 2016 wurde die Internetseite Folkloretanznoten.de optisch neu gestaltet. Seit über 15 Jahren besteht diese Notensammlung im Netz mit heute mehr als 2.500 Tanzstücken aus dem Balkan, Europa und weiteren Teilen der Welt. Wir sprachen mit Jutta Weber-Karn, die folkloretanznoten.de inzwischen federführend betreut.

Lest heute den ersten Teil unseres Interviews mit Jutta. Am Karfreitag schalten wir den zweiten Teil des Interviews für Euch.

Liebe Jutta, Du hast folkloretanznoten.de als Internetseite schon seit einigen Jahren in Betrieb. Eine Seite mit einem riesigen Fundus aus niedergeschriebenen Noten als PDF-Dateien aus dem Balkan-Raum.

Ja, Balkan ist sicherlich der Schwerpunkt, aber eigentlich sind das Noten aus ganz Europa und auch ein bisschen darüber hinaus, wie beispielsweise aus Israel oder Amerika. Doch der Schwerpunkt liegt eindeutig auf Bulgarien, Rumänien, Mazedonien und Griechenland.

Und das sind Folkloretanznoten, also Folklorenoten, die zum Tanz geeignet sind?

Wir machen die Stückauswahl danach: ein Tanzlehrer hat zu irgendeinem Zeitpunkt eine Aufnahme benutzt, um einen Tanz zu erklären; und diese Aufnahme wird dann transkribiert.

Von Dir?

Auch. Aber begonnen hat das Martin Junghans Ende der 90er Jahre. Und seit ungefähr 2008 bin ich dabei. Wir hören uns die Aufnahmen an und schreiben daraus ein spielbares Notenblatt.

Und andere Folkloretanzgruppen suchen aus dem Fundus die für sich passenden Noten heraus, die sie dann in der Musikgruppe spielen?

Beispielsweise, genau. Wir haben vorwiegend Sachen, die Tanzlehrer unterrichtet haben, die in Deutschland Seminare gegeben haben oder in Deutschland bekannt sind. Es gibt natürlich noch sehr viele andere Stücke, die uns gar nicht bekannt sind. Letztendlich ist es so, dass Martin damals erst für seine eigene Tanzgruppe in Osterholz-Scharmbeck in Niedersachsen, die es immer noch gibt, Stücke aufgeschrieben hat. Seine Tanzgruppe hatte noch nie nach CD-Musik getanzt, sondern immer nach Live-Musik; dafür hat er primär geschrieben. Und dann gibt es seit bald 30 Jahren in Norddeutschland ein Pfingstseminar und ein Silvester-Seminar, die auch jeweils mit vielen Stücken bedient werden. Dadurch hat sich die Website Stück für Stück aufgebaut.

Das heißt, Martin hat mit seiner Sammlung begonnen und diese irgendwann ins Internet gestellt. Und so ist diese Seite entstanden?

Die Seite fing an, als Martin begann, mit dem Computer Noten zu schreiben. Er hatte auch wesentlich mehr handschriftliche Noten im Schrank, was wir irgendwann feststellten: nochmal mehrere hundert Stücke, die wir dann eingescannt haben.

Mehrere Hundert?

Mehrere Hundert. Im Moment sind wir bei zweieinhalbtausend.

Wow, unfassbar! Ist das nicht fast sogar ein Lebenswerk?

Ja, eigentlich schon. Derzeit schreibe ich nicht nur neu, sondern ich korrigiere, ergänze und erweitere auch viel. Martin hatte einen anderen Ansatz als ich. Er war bis zu seiner Rente Musiklehrer, ihm ging es darum, möglichst schnell irgend etwas Spielbares auf dem Papier zu haben. Mir geht es darum, diese Aufnahmen möglichst exakt abzubilden. Außerdem ist es mir wichtig, die Quelle anzugeben, also wer das Stück gespielt hat oder welcher Tanzlehrer das Stück eingeführt hat – sofern ich diese Informationen bekommen kann.

Das bedeutet, Martin hat die Noten notizartig aufgeschrieben, da er wusste, wie sich das anhört, und wie es wieder gespielt wird. Aber Dir war es wichtig, die Noten für Leute, die dieses Hintergrundwissen eben nicht hatten, so genau wie möglich nieder zuschreiben und spielbar zu machen.

Kann man so sagen. Er hat auch vollständige Partituren geschrieben, wenn das für ein Seminar relevant war. Aber meistens wusste er für sich genau, wie man das phrasiert oder verziert und schrieb das nicht unbedingt in die Noten. Ich habe allerdings die Feststellung gemacht, dass, wenn sich jemand gar nicht mit jeweiligen Stil auskennt, es dann eher klingt wie ein deutsches oder zumindest westliches Stück. Die Noten ersetzen nicht, sich mit der Musik zu beschäftigen. Man kann nicht mit einem neuen bulgarischen Stück auf Noten beginnen, wenn man nicht weiß, wie “bulgarisch” klingt.

Kenntnis des Stils ist wichtig

Es setzt demnach eine gewisse Kenntnis der lokalen Musik voraus, um die Noten interpretieren zu können?

Unbedingt. Man kann Folklore nicht bis ins Letzte notieren. Es ist keine Klassik. Es sind immer Kleinigkeiten drin, die sich nicht aufschreiben lassen, die man eher in der Beschäftigung mit der Musik mit regionalen Spielern lernt und dann anwenden kann. Wenn man wirklich Folklore spielen will, kommt man da nicht drum herum. Zwar gibt es auf dem Markt viele Hefte mit Folklorenoten – die sind auch nicht schlecht gemacht – aber im Grunde sind das alles Notenblätter, bei denen Du, um wirklich Folklore zu spielen, wissen musst, wie das funktioniert. Doch diese Information geben diese Hefte nicht.

Ist das nicht ein Problem der Notation allgemein?

Im Grunde hat die Notation der Folklore geschadet. Schauen wir uns an, was in Bulgarien geschehen ist: Es gab keinerlei Notation bis in die 1910er, 1920er Jahre. Da hatte sich das erst dadurch etabliert, dass Leute nach Paris gingen und nach Deutschland und dort Musik studierten. Mit der symphonischen Komposition hielt die klassische Musik in Bulgarien Einzug und damit die Notation. Vorher wurde die Folkloremusik ausschließlich mündlich überliefert. Es bildeten sich dadurch Feinheiten heraus, die so nirgendwo zu hören waren. Dann gab es in Bulgarien, wie in anderen Ländern auch, ein nationales Erwachen; es entwickelte sich Interesse an der eigenen Kultur. Man könnte die Musik ja aufschreiben, die die Leute auf dem Dorf singen und spielen. Teilweise wurden hier nur die Texte oder nur die Melodie gesammelt. Die Forscher schrieben auf, was sie kannten, was ihr Schwerpunkt war.

Ein sehr gutes Beispiel ist dieser Pirin-Achter. Es fiel mir auf, dass bei vielen alten Aufnahmen aus dem Pirin-Gebirge, also dem mazedonischen Teil Bulgariens, Aufnahmen, die wir sonst als 7/8 kennen, ein längeres Taktende hatten. Das ist ein Phänomen, das findet sich nur im Pirin. In der Republik Mazedonien, die musikalisch der Pirin-Region sehr verwandt ist, kommt das gar nicht vor und im restlichen Bulgarien auch nicht. Manche dieser frühen Forscher haben die 8/8 auch notiert, aber viele andere nicht. In der moderneren Spielpraxis fällt das jetzt immer mehr hinten runter. Die Leute kennen die Acht nicht und spielen es als Sieben, also 3-2-2. Für den Tanz macht das praktisch nichts aus, aber die Musik klingt anders. Solche Feinheiten verschwinden jedoch durch ungenaues Hören und die entsprechende Notation. Sehr schade.

Wenn jemand ein Stück auf Deiner Website in Noten findet, es aber vorher noch nicht gehört hat: wie schafft er es, den Stil besser zu verstehen bzw. auch spielen zu können?

Er sollte versuchen, die Aufnahmen zu bekommen – vielleicht auf Youtube – möglichst von Einheimischen gespielt. Findet er das Lied nicht, sollte er schauen, aus welcher Region es stammt und erst einmal Musik aus dieser Ecke hören, um den Stil an sich zu verstehen. Wir könnten zwar theoretisch die Aufnahmen auf die Website stellen, aber das wäre urheberrechtlich kaum machbar. Die Seite ist obendrein eine Non-profit-Sache. Wir verdienen nichts dran, das ist alles unsere Freizeit. Daher halten wir die Kosten gering und das Datenvolumen klein.

Welche Instrumente können hier mitspielen?

Im Grunde alle. Ich habe schon Transpositionen für beispielsweise das Fagott gemacht. Wenn man es natürlich original haben will, muss man sich die Instrumente aus der jeweiligen Region anschauen.

Die Instrumente für Folkloretanzstücke

Was wären typische Instrumente?

Das traditionelle Orchester in Mazedonien besteht aus Tambura, einer Langhalslaute; deren kleine Form, Tamburica, es auch in Serbien und Kroatien gibt. Dazu gehört ein Kaval, das ist eine Flöte mit einem ganz speziellen Mundstück, ein Tapan, die große Basstrommel; Dajre, eine Rahmentrommel mit Schellen. Und die Gajda, der Dudelsack. Bei moderneren Stücken spielt auch das Akkordeon eine wichtige Rolle.

Es gibt doch zwei Arten der Gajda?

In Bulgarien gibt es die normal große Gajda, die džura gajda. Sie kommt hauptsächlich in der Mitte des Landes, in Thrakien vor. Im Gebirge der Rhodopen, im Süden, spielt man die kaba gajda, die tiefe Gajda mit einem besonderen Klang, richtig sonor. Sie hat einen riesigen Balg. Das ist ein ganzer Tierkörper mit abgeschnittenem Kopf und abgeschnittenen Beinen. Die Enden, also die Beine und der Kopf, werden dazu genutzt, die Spielpfeife und den Bordun einzubinden.

Die Kombination von Gajda, Kaval und Tambura ist traditionell am häufigsten anzutreffen. Das ist auch in Bulgarien so, wobei hier noch die Gâdulka dazukommt. Das ist eine Kniegeigen-Variante. Sie wird aber nicht auf dem Knie stehend gespielt, sondern mit dem unteren Ende in ein Band eingehängt. Die Seiten werden nur berührt, man erzeugt Flageoletttöne. Diese Geige hat so viele Resonanzseiten, dass es zu einem voluminösen und sphärischen Klang kommt. Sehr, sehr schön.

Und nicht zu vergessen ist der Gesang.

Ja, der Gesang ist auch wichtig. Es gibt da viele verschiedene regionale Stile, die sich insbesondere in den Verzierungen ausdrücken. In Bulgarien gibt es auch einen speziellen Stimmsitz. Man kennt ja “Das Geheimnis der Bulgarischen Stimmen”, die Chöre. Da kann man den Stil gut hören. Beim Nachmachen muss man sich an die Technik rantasten. Westliche Sänger sind oft der Meinung, es sei nasal und man müsse sich dabei stark anstrengen, doch so ist es nicht. Man bildet einfach den Ton anders, nutzt andere Resonanzräume im Kopf als beim klassischen Gesang. Das ist eine besondere Technik. In ähnlicher Form ist das in Mazedonien zu finden, auch in Serbien, auf dem Dorf. Doch in Bulgarien ist dieser Stil am ausgeprägtesten. Ganz wichtig ist, dass man im Sprechregister singt, also keine Kopfstimme verwendet.

Es wird also nicht besonders tief für die eigene Stimmlage, aber auch nicht besonders hoch gesungen?

Das Spektrum der singbaren Töne ist begrenzt. Aber die traditionellen Stücke haben auch ein eher kleines Tonspektrum.

Ist ja keine Klassik.

Nein, ist keine Klassik. (lacht) Wobei in den letzten paar Jahrzehnten gerade in Bulgarien viele Sängerinnen im klassischen Gesang ausgebildet wurden, zusätzlich zu ihrer auf dem Dorf traditionell erlernten Technik. Die konnten dann natürlich auch andere komponierte Stücke singen.

Aber sie haben die traditionellen Lieder dadurch nicht verdrängt oder modifiziert?

Ein bisschen modifiziert, aber nicht verdrängt.

Besitzen die hiesigen Folkloregruppen die traditionellen Instrumente aus den entsprechenden Regionen, um deren Musik hier zu spielen?

Eher weniger. Es gibt immer wieder einzelne Leute, die solche Instrumente spielen wie die Tambura, manchmal auch die Gâdulka, die Geigenart aus Bulgarien. Doch das Problem ist schon allein, sich diese Instrument zu beschaffen. Zwar kann man sie auch über das Internet bestellen, doch ob das dann ein gutes Instrument ist, ist die Frage. Ab besten kauft man es vor Ort und probiert es dort auch aus.

Also spielen die Musiker der Folkloretanzgruppen die Lieder Deiner Folklorenoten-Website mit ihren eigenen Instrumenten?

So ist es. Man kann viel mit Akkordeon machen. Neuere Ensembles aus Südost-Europa verwenden viel Klarinette, in Griechenland sowieso.

Mit welchen “klassischen” Instrumenten spielt man hier bei uns die Folkloremusik ferner Länder?

Geige, Klarinette, Akkordeon, Bass.

Blockflöte auch?

Kann man nehmen, wenn man sie wirklich spielen kann. (lacht) Man kann auch Querflöte verwenden. Die Gefahr dabei ist oft, dass man, wenn man bis jetzt nur klassische oder westliche Musik gespielt hat, einen Ansatz hat, der nicht so klingt, wie es sollte.

Wie es klingen soll

Ist es wichtig, dass es so klingt, wie es soll?

Das hängt vom Einzelnen ab. Mir ist es wichtig, mich zumindest so weit anzunähern, wie ich kann. Ich komme nicht aus den Ländern, darum werde ich nie ganz so klingen wie jemand, der damit aufgewachsen ist. Ich denke, es ist eine Entscheidung, sich darauf einzulassen; ob man es überhaupt so genau will oder nur etwas haben möchte, das schön fremd klingt. Klar, es gibt immer Leute, die das neu entdecken und erstmal anfangen, es zu lernen. Aber meiner Meinung nach hat es in jedem Fall etwas mit Respekt zu tun. Man sollte zumindest wissen, wie es richtig geht. Ob man es letztendlich auch so macht, ist wiederum ein künstlerisches Moment – folgt man dem Traditionellen oder schlägt man einen anderen Weg ein? Aber sich daran zu begeben und überhaupt gar nicht zu wissen, wie es richtig geht, halte ich für respektlos, denn wir bedienen uns einer anderen Kultur. Das ist nicht unsere; wir haben sie nur geliehen. Und dann sollten wir auch pfleglich damit umgehen.

In der Tanzszene ist es oft üblich, einfach einmal eine andere Musik zu nehmen zu Choreografien, wohlgemerkt aus Ländern, in denen wir nicht aufgewachsen sind, deren Tänze also nicht zu unserem traditionellen Hintergrund gehören. Einmal hatten wir den Fall, dass ein mazedonischer Tanz erklärt wurde – mit einer Musik, die nicht die originale war, das wäre ein mazedonisches Blechblas-Ensemble gewesen, mit einem sehr schwungvollen, dynamischen Instrumentalstück – sondern da hatte irgendjemand ein Boyash-Gesangsstück dafür genommen (die Boyash sind eine Roma-Gruppe, die einen rumänischen Dialekt spricht und in Süd-Ungarn lebt, weit weg von Mazedonien), und dann war das obendrein noch eine Interpretation von drei Schweizer Frauen. Das hatte mit dem original mazedonischen Blech-Orchester gar nichts mehr zu tun. Dies wurde den Tänzern, die das im Seminar gelernt hatten, noch nicht einmal mitgeteilt. Sie erfuhren also von den Tanzlehrern, es sei ein original mazedonischer Tanz, aber dass die Musik überhaupt nicht stimmt, wurde nicht erwähnt. Und das finde ich sträflich. Die Einheit von Musik und Tanz wird so nicht gewahrt.

Ja, das ist schade, weil damit einiges vergessen geht.

Es ist extrem schade. Die Tänzer geben das ja weiter, dann verbreitet sich das und nach einer Weile weiß kein Mensch mehr um das Original.

Wäre das nicht eine Fortsetzung von kreativem Liedgut?

Ich finde, da gibt es Grenzen. Zum Beispiel die Seniorentanzszene, die sich, soweit ich das bisher erlebt habe, überall bedient. Die picken sich eine Melodie von hier und ein paar Schritte von dort, tun das alles in einen großen Kessel, rühren um und fertig ist ein neuer Tanz. Die haben gar nicht den Anspruch, das ordentlich und fundiert zu machen, sie wollen die Leute bewegen und unterhalten. Wenn ich allerdings zu einem Seminar gehe und gesagt bekomme, das sei ein mazedonischer Tanz, und dann komme ich mit einer Musik nach Hause, die weder mazedonisch noch überhaupt aus Südosteuropa ist; und noch nicht mal im Originalzustand und auch nicht kulturell verbunden mit dem Tanz (lacht) – dann passt da gar nichts mehr. Das ist für mein Verständnis ein No-Go, es greift leider immer mehr um sich. Ist wohl ein Sport geworden, der Tanz. Die achten dann auch nicht auf Fußstellung, Schrittlänge, Haltung, sondern machen fröhlich Aerobic mit Musik. Und das macht ihnen Spaß, was ja auch wichtig ist… Aber dann sollen sie das Material bitte nicht als originale Folklore weitergeben.

2 Gedanken zu „Ein unglaublicher Fundus an Tanzmusik – Teil I

  1. Danke lieber Jonas, sehr interessant! 🙂 LG Britta (seid Ihr auch am 9. April bei Bruce 700?)

    1. In einer Woche gibt es den zweiten Teil. Bei Bruce 700 sind wir natürlich dabei. Viele Grüße!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert